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#premiere

24. Mai 2024 Lea-Maria Kneisel

Über eigentümliche Kreaturen und das Bedürfnis, nach Sinnhaftigkeit zu suchen

Die Choreografin Lee Méir ist in 2023 und 2024 Creative Crossroads-Künstlerin des europäischen Netzwerkprojekts Life Long Burning. Im Rahmen dieses Programms hat sie bei uns mehrere Wochen geprobt und feiert nun mit ihrer neuen Arbeit crying creatures crying Premiere im Studio 14. Unsere Redakteurin Lea hat sie auf ein kurzes Gespräch über ihre neue Arbeit getroffen.

 

Lea: Wir freuen uns schon sehr auf die Premiere von crying creatures crying! Lass uns aber vorher an den Anfang springen: Mit welchen Ideen hast du deine Arbeit an deinem neuen Stück begonnen?

 

Lee: Am Anfang war für mich klar, dass ich ein Stück ohne Sprache machen möchte. Vorher stand für lange Zeit die Sprache im Mittelpunkt meiner Arbeit, insbesondere die Beziehung zwischen Sprache und dem Körper. Sowohl persönliche als auch berufliche Ereignisse haben jedoch daraufhin den Wunsch in mir geweckt, andere Dinge zu erforschen und irgendwie von der Sprache wegzukommen.

Im Jahr 2019 ging ich zum Beispiel mit dem Pina-Bausch-Stipendium für drei Monate in den Senegal, um an der L'Ecole des Sables zu studieren. Dort befasste ich mich eingehend mit der Beziehung zwischen Tanz und Rhythmus und entdeckte darin auch die große Ähnlichkeit zur Sprache: Wie der Rhythmus einen Rahmen bzw. Stabilität gibt, die uns auch die Sprache zu geben pflegt. Ausgehend von diesen Erkenntnissen begann ich 2021 mit der Arbeit an safe&sound, einem Gruppenstück mit sechs Tänzer*innen (das damals wegen der Pandemie im HAU nicht live gezeigt werden konnte und 2023 im Radialsystem seine Live-Premiere hatte). In diesem Stück arbeiteten wir mit Rhythmus durch Live-Sound und Stimme (es gab keine eingespielte Musik in dem Stück, nur die von den Performer*innen auf der Bühne erzeugten Rhythmen), die wir durch umfangreiche Stimmarbeit und die Auseinandersetzung mit Materialien, Objekten und Kostümen erzeugten. Durch diese Erfahrung und meine jahrelange Erfahrung als Kostümbildnerin begann ich, mich sehr für Materialien und Kostüme zu interessieren.

Ich interessierte mich für Kostüme nicht nur als eine Art visuelles Element, sondern auch als Material, das man auf physische und emotionale Weise entdecken kann. Aus diesem Interesse heraus habe ich ein Format entwickelt, das ich Costume Workshop nenne und das ich in unterschiedlichen Kontexten unterrichte. Für das Format bringe ich eine Menge Kostüme und Materialien mit, und die Leute verkleiden sich einfach, wie Kinder, die Kostüm spielen. Das ist der Einstieg in das Improvisieren und Forschen mit Bewegung. Durch die Workshops habe ich mich immer mehr mit der Idee auseinandergesetzt, wie Kostüme eine Person und ihre Körperlichkeit verändern können. Das war im Grunde eine der Hauptideen, die mich zu „crying creatures crying“ gebracht hat. Die Idee, mich zu verkleiden, mich körperlich zu verändern und zu sehen, wie das auf mich wirkt. Ja, die Idee der Gestaltveränderung.

#gestalten

Lea: Was für andere Ideen sind neben der Idee der Gestaltveränderung in crying creatures crying enthalten?

 

Lee: Ich wollte ein Stück machen, das sehr atmosphärisch und weniger logisch ist, in dem Sinne, dass man es nicht so leicht kontextualisieren kann. Ich wollte etwas schaffen, das mehr eine Erfahrung ist. Wir versuchen immer, aus den Dingen einen Sinn zu machen, aus dem, was wir sehen, aus dem, was wir wahrnehmen. crying creatures crying ist eine Art Einladung, dieses Bedürfnis, aus allem einen Sinn zu machen, ein wenig aufzuschieben.

 

Lea: Das sind spannende Ansätze! Wie bist du mit deiner Recherche in die Themen gestartet?

 

Lee: Wie die meisten künstlerischen Prozesse begann ich mit dem Schreiben einer Bewerbung. Das ist manchmal knifflig, weil es sehr darauf ankommt, wie wir die Dinge durch die Sprache artikulieren – auch hieran kann man wieder den Stellenwert der Sprache in unserer Gesellschaft erkennen. Es war ein ziemlich langer Weg, denn erst nach einem guten Jahr wurde ich gefördert, nach vier oder sogar fünf Bewerbungen.

Innerhalb dieses Jahres hat sich das Stück (das Konzept, der Rahmen, das Budget usw.) immer wieder verändert, weil ich den Antrag an verschiedene Förderungprogramme anpassen musste. Parallel dazu habe ich immer wieder das Format der Costume Workshops geleitet. Als ich dann eingeladen wurde, bei der tanznacht im September 2023 aufzutreten, konnte ich eine erste kleine „Probe“ meiner bereits wieder und wieder veränderten Version von crying creatures crying testen. Kurz danach habe ich die Finanzierung für das Stück erhalten und direkt mit der Arbeit begonnen.

"Alles kann eine Inspiration sein, alles kann zu etwas anderem werden."

Lea: Und wie sieht diese Arbeit, wie sieht dein Probenprozess konkret aus?

 

Lee: In den Proben gehen ich und mein Team immer zunächst von den Materialien und ihren Eigenschaften aus und entwickeln daraus Charaktere und Kreaturen. Wir entdecken quasi die verborgene Kreatur im Material, das Potenzial der Kreatur. Dann betrachten wir sowohl die Kreaturen als auch die Materialien, indem wir Fragen stellen wie: Wie bewegt sich diese Kreatur? Wie klingt sie? Was ist das Interessante an diesem Material? Warum dieses und nicht ein anderes? usw. Fast alle Materialien, die wir verwenden, sind aus zweiter Hand, was bedeutet, dass ihr ursprünglicher Verwendungszweck ein anderer war. Das bedeutet gleichsam, dass sie ein Leben hatten, bevor wir ihnen begegnet sind. Das ist genau mein Ansatz: Ich verwende Dinge, die bereits vorhanden sind, um völlig neue Geschichten zu erfinden. Alles kann eine Inspiration sein, alles kann zu etwas anderem werden. Das ist etwas, das hoffentlich in dem Stück als Botschaft an das Publikum mitschwingen wird.

Lea: Du redest von deinem Team. Mit wem arbeitest du bei diesem Stück denn zusammen?

 

Lee: Für mich sind die Menschen, mit denen ich arbeite, sehr wichtig. Bei diesem Stück wusste ich, dass ich etwas für mich Neues machen würde, nämlich sowohl mit einem/einer Bühnenbildner*in, als auch mit einem/einer Musiker*in zusammen zu arbeiten. In den meisten meiner früheren Stücke habe ich nur mit Live-Sound und Stimme gearbeitet, und mit ziemlich minimalen Bühnenbildern, da ich sehr daran interessiert war, wie der gesamte Theaterapparat allein durch den Körper ausgedrückt werden kann. Aber für dieses Stück wollte ich etwas anderes ausprobieren. Was die Bühne betrifft, wusste ich, dass ich jemanden brauche, der in Bühnenbildern denken kann und über technisches Wissen verfügt, aber vor allem jemanden, der eine sehr tiefe Beziehung zu Materialien und Handwerk hat. Dank Eli, meiner choreografischen Assistentin, lernte ich Loïc kennen, die durch ihren Umgang mit den Materialien buchstäblich Magie ins Studio brachte. Im Laufe des Prozesses wurde uns schließlich klar, dass Loïc wirklich fast die ganze Zeit mit mir auf der Bühne stehen muss, und in diesem Sinne wurde das Stück eher zu einem Duett als zu einem Solo. Auch Saskia, die sowohl meine Produzentin als auch meine Kostümbildnerin ist, ist jemand, der eine sehr enge Beziehung zu Materialien und Handwerk hat und einen Hintergrund in Modedesign. Saskia und ich arbeiten nun schon seit zwei Jahren eng zusammen und haben eine ganz eigene Methode entwickelt, um gemeinsam Kostüme zu entwerfen. Was die Musik betrifft, so arbeite ich zum ersten Mal mit Jana zusammen, und das ist etwas ganz Besonderes für mich, da ich, wie ich bereits erwähnt habe, nicht viel Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Musiker*innen und/oder Sounddesigner*innen habe. Die Frage nach den verschiedenen Rollen, die Musik in einem Stück spielen kann, hat mich fasziniert. Auch als jemand, der die Musik normalerweise nur durch meine Stimme und meinen Körper produziert, fühlt es sich gut an, von externer Musik unterstützt zu werden.

Mit Eli, meiner choreografischen Assistentin, arbeite ich nun schon seit vielen Jahren zusammen, aber normalerweise steht sie auf der Bühne und ich choreografiere von außen. Auch in diesem Stück hat sich ihre Rolle ständig verändert: Da das Stück sehr bildbasiert und visuell ist, musste ich in der ersten Phase unserer Proben die Improvisationen von außen sehen, um zu erkennen, was das Bild hervorbringt. So war Eli manchmal 'ich' und ich sah von außen zu. Als die Kreaturen, die wir aus den Materialien geschafften hatten, immer deutlicher wurden, trat Eli hervor und half mir, ihre Körperlichkeit und ihr „Verhalten“ zu verstehen und daran zu arbeiten. Mit Lidy, der Dramaturgin des Stücks, arbeite ich nun auch schon seit vielen Jahren zusammen. Für mich besteht ihre Rolle darin, immer den Überblick zu behalten, einen Blick von außen auf das Stück zu werfen, der eine Distanz ermöglicht und es gleichsam ermöglicht, in Beziehung zu den Dingen zu sein, die draußen in der 'realen' Welt sind. Für mich ist sie auch diejenige, die mir die schwierigen, aber sehr wichtigen Fragen stellt - die Fragen, die ich vielleicht vermeide oder zu denen ich keinen Zugang habe. Und ganz wichtig: Sie ist auch jemand, der mich immer daran erinnert, wie viel Freude es macht, in diesem Bereich zu arbeiten. Das wird so oft vergessen! Und auch mit Catalina, die die Beleuchtung macht, arbeite ich bereits zum dritten Mal zusammen. Sie ist jemand, der ein sehr unmittelbares Verständnis von Bühne und Licht hat. Bei ihr habe ich immer das Gefühl, dass ich meine Ideen nicht groß erklären muss, sondern dass sie sich wirklich auf den Kern des Stücks einstellt und einen Weg findet, diesen Kern durch die Beleuchtung zu verstärken.

Für mich besteht das Wichtigste bei der Zusammenarbeit darin, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich jeder auf den anderen einstellen kann und wir gemeinsam dazu in der Lage sind, die Mikrowelt des Stücks zu erschaffen. Es ist etwas ganz Besonderes, wenn diese Art von Einstimmung stattfindet, dieses seltsame gemeinsame Verständnis von Dingen, das nur dadurch entsteht, dass man Zeit miteinander verbringt und sich Dinge gemeinsam vorstellt.

Lea: Eine letzte Frage zum Schluss: Wie würdest du das Stück für dein Publikum beschreiben?

 

Lee: Ich glaube, in diesem Stück (wie in allen meinen Stücken) geht es um etwas sehr Wichtiges: Darum, zu spielen, aber das Spiel auch sehr ernst zu nehmen! Das hat für mich etwas mit der Art und Weise zu tun, wie Kinder spielen, weil es ihre Art ist, zu proben und sich auf das Leben in der Welt vorzubereiten. Bei der Interpretation von „Spielen“ durch Erwachsene denken wir oft, es sei kindisch, aber es ist überhaupt nicht kindisch, es ist ein sehr reales Spiel! Aber um deine Frage genauer zu beantworten - vielleicht würde ich das Stück als etwas zwischen einem Kindergarten, der Garderobe eines Opernhauses in einer kleinen Provinzstadt mit einem sehr ehrgeizigen Regisseur und einem Film, der in den 80er Jahren spielt, beschreiben...aber wahrscheinlich würde ich dir morgen wieder eine andere Antwort geben...

 

crying creatures crying hat am Freitag, den 24. Mai um 20.30h im Studio 14 Premiere. Am Samstag, 24. Mai, 20.30 Uhr und Sonntag, 25. Mai, 17.00 Uhr, folgen zwei weitere Vorstellungen. Karten sind über unsere Website erhältlich.

Das Interview wurde im Original in englischer Lautsprache abgehalten.

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